Benzin

Joe Smith fuhr mit seinem Traktor den staubigen Feldweg entlang. Zwei Uhr nachmittags in Kentucky. Die Sonne brannte herunter. Weidezäune verlegen war heute angesagt. Nicht seine Lieblingsarbeit, aber es musste ja auch getan werden. Und es war seine Farm. Seit dem Tod seiner Frau Sarah war er allein, wer also sollte es sonst tun. Bis jetzt war alles einigermaßen gelaufen. Er war immer durchgekommen. In letzter Zeit hatte sich das Klima geändert. Neue Schädlinge waren aufgetaucht, vieles nicht mehr so gewachsen wie früher. Und die ewige Hitze. So etwas hatte es früher nicht gegeben. Monatelang fast fünfzig Grad. Das Schlimmste aber war der Benzinpreis. Drei Dollar pro Liter. Nicht pro Gallone, nein, pro Liter. Wie sollte da sein Geschäft noch rentabel sein? Und seit Sarah weg war, musste er all die Arbeit alleine machen. Ein hartes Leben. Gerade wollte er in die Kühlbox greifen, sein hartes Leben mit einem Bier ein wenig erleichtern, als er etwas sah, das er erstmal gar nicht begriff. Neben dem Weg, im hohen Gras, lag ein Ball. Oder so etwas ähnliches wie ein Ball. Durchsichtig. Mehr konnte er nicht erkennen, da der Ball hinter einem Hügel lag. An der Seite hingen ein paar Schläuche weg, ebenfalls durchsichtig. Er stoppte den Pickup und stieg aus. Schob sich die Baseballkappe mit zwei Fingern in den Nacken, mit der typischen Geste, die man aus so vielen Filmen kennt. Er machte sich auf, die paar Meter bis zu dem Ball zu gehen.


Julia war auf dem Weg zur Schule. Björn-Ole lümmelte auf der Rückbank des Volvo-XC 90 herum, tippte auf seiner Spielekonsole. Piep, fiep. „Kannst Du das ein bißchen leiser machen?“ „Och männo, nööööö.“ „Björn-Ole, bald haben wir eine neue Regel!“ „Bäbäbäh, du kannst mir gar nichts.“ Nervensäge. Aus Michaels erster Ehe. Sie parkte den Volvo auf dem Radweg. „Na, nu geh schon.“ Wortlos stieg Björn-Ole aus. Der nervte. Und die Spritpreise nervten. Da machte so ein Auto gar keinen Spaß mehr. Seit der Liter Benzin über fünf Euro kostete. Bei Diesel war es noch schlimmer, seit die EU wieder so eine "Umweltverordnung" beschlossen hatte, durch die Diesel so hoch besteuert wurde wie Benzin. Und jetzt? War Diesel sogar noch teurer als Benzin. Bis zu sechs Euro pro Liter! Wie sollte man denn bei den Spritpreisen noch bei "Manufactum" und "Grüne Erde" einkaufen? Das war ökologisch, da einzukaufen. Aber das kapierten die in Brüssel nicht und nahmen Leistungsträgern wie ihnen die Mittel für verantwortungsvollen Konsum weg.

Sie wollte zum Yoga, aber der Verkehr war zäh. Warum waren heute bloß so viele Leute unterwegs? Bestimmt wohnen die Hälfte von denen hier. Das ist ja immer noch viel zu billig, wenn es sich so viele Leute leisten können, hier zu sein. Die sollen sich doch nach Olching oder Kaufbeuren verkrümeln.

Dann sah sie, warum. Direkt hinter dem Siegestor konnte sie die Blase sehen. Sie schien mitten auf der Straße zu liegen. Durchsichtig, mit etwa zehn Metern Durchmesser. Aus ihr ragten eine Menge Schläuche heraus. Um die Blase herum Autos. Sie scharten sich um sie wie Fliegen um einen Kuhfladen.


Joe ging leicht bergauf und kam dem höchsten Punkt immer näher. Er sah die Dächer von Autos auftauchen, hauptsächlich wohl Pickups. Als er ganz oben war, sah er sechs Pickups, den Cadillac Escalade von Jake und Lennys Chevrolet um den Ball herum stehen. Die Blase stand auf der Wiese. Sie war durchsichtig, der Inhalt farblos, fast wie Wasser. Aber es war reinstes, feinstes Benzin. Von der Blase gingen Schläuche aus, etwa fünf Zentimeter dick und ebenfalls durchsichtig. Sie wabbelte ganz leicht hin und her. Wenn man die Hand auf die Oberfläche der Blase legte (was problemlos und ohne negative Folgen möglich war), spürte man, wie ein feines Vibrieren von ihr ausging. Sie wirkte fast wie ein Lebewesen, wie eine riesige Amöbe. In gewisser Weise war sie das auch, aber das zu verstehen hätte den aktuellen Horizont der Menschheit in Bezug auf Biotechnologie weit überschritten. In jedes der Autos, die um die Blase herumstanden führte ein Schlauch, der mit leichtem Schlängeln und Zucken Treibstoff in das Auto pumpte.

Joe hatte Jake erreicht. „Was’n hier los?“ Jake tippte zum Gruß an die Kante seiner Kappe. „Hmm. War einfach da, das Ding. Is' Benzin drin. Und sogar richtig feines.“ „Wie kannstn da tanken?“ „Is' ganz einfach. Du ziehst den Schlauch in die Nähe von Deinem Auto. Dann machste den Tankdeckel auf. Der Schlauch geht von ganz allein rein. Verformt sich von selbst so, dass es passt. Irres Ding das. Will ist schon mit dem Zeug gefahren. Ist einwandfrei“. Er spuckte auf den sandigen Boden, offensichtlich zufrieden mit seinem Leben. „Na dann hol ich mal meinen Pickup. Könnte auch ne Tankfüllung gebrauchen.“


In München war die Sache nicht so einfach. Als der Ball aufgetaucht war, erschienen sofort die ersten Leute, aber als alle Schläuche besetzt waren, ging der Streit los. Gegelte Cayenne-Fahrer rüpelten und schubsten ältere Herren, die sich schützend vor ihre Dickschiffe von Mercedes stellten. Jeder wollte als erster an das kostbare Nass. Dieser Ball schien Diesel zu enthalten. Die Schläuche verbanden sich nicht mit Autos, die Benzin tanken mussten. Aber das passte. Fasst alle Dickschiffe mit dem großen Durst brauchten ja Diesel. Die Lage eskalierte, weil für jeden, der satt und vollgetankt wegfuhr, zehn andere auftauchten. Es kam zu Prügeleien und schließlich versuchte ein X6-Fahrer, einen Konkurrenten zu überfahren.

Da griffen die Wächter ein. Roboter mit einem bio-organischen Äußeren, die irgendwie aussahen, als hätte man ein Metallgerippe mit Fleisch überzogen. Sie hatten Tentakeln, Arme mit Händen und offensichtlich je nach Bedarf noch andere Gliedmaßen und Fortsätze. Die Farbe ihrer Haut changierte zwischen violett und grün. Bestimmt vermittelten die Farbwechsel eine Botschaft, aber die konnten die Menschen nicht verstehen. Niemand hatte so recht mitbekommen, woher sie kamen, aber zum richtigen Zeitpunkt waren sie einfach da.

Und sie waren kräftig. Sehr kräftig. Und groß, gute acht Meter hoch. Ohne einen Laut von sich zu geben, regelten sie den Zugang zum Ball. Wenn es sein musste, schoben sie ein Auto zur Seite oder hoben es sogar weg, sie trugen es einfach wie ein Baby in den Armen vor sich her. Menschen berührten sie vorsichtig, sie schoben sie mit ihren Händen in Position, so wie man ein Kleinkind dirigiert.


Auf der ganzen Welt waren die Bälle aufgetaucht. Schnell organisierten sich Gruppen in sozialen Medien und Messenger-Diensten, in denen Informationen über die Standorte der mysteriösen Bälle ausgetauscht wurden. Keiner hatte den genauen Überblick, aber es musste sich um mehrere Tausend, vielleicht sogar Zehntausende Bälle handeln. Und überall, wo es notwendig war, regelten die riesigen Roboter den Zugang und verhinderten mit ihrer Präsenz Aufstände beim Kampf um den Treibstoff. Irgendwo in Südamerika hatte jemand versucht auf einen der Roboter zu schießen. Der war überhaupt nicht beeindruckt. Irgendwo aus der Gegend seiner Brust schoss ein Tentakel, schnappte dem Mann die Waffe weg, ohne ihm auch nur einen Kratzer zuzufügen. Dann zerquetschte er sie kommentarlos in einer seiner vier riesigen Hände. Das ganze ging ruhig von sich und ohne dass der Roboter im geringsten aggressiv erschienen war.

Die Erde war von ihrer größten Sorge befreit. Das war nicht der Klimawandel oder die Kriege überall, sondern die hohen Preise für Treibstoff. Nun gab es wieder Benzin und Diesel, und das sogar kostenlos. Wellen des Glücks durchfluteten die Menschheit. Zeitungen titelten: „Spritkrise vorbei?“ oder „Sprit umsonst. Nun wird alles gut!“ Soviel Glückshormone waren seit der letzten Fussballweltmeisterschaft nicht mehr freigesetzt worden. Befeuert von der neuen Spritseligkeit arbeiteten die Entwicklungsabteilungen der Autohersteller bereits an Modellen, die den neuen Umständen gerecht würden. Vorbei waren die beginnende zarte Blüte der Elektromobilität und andere Überlegungen über Klimaschutz. Bei BMW begannen die Planungen für den X11, bei Audi begann man den Q13 zu konzipieren, beide über zweitausend PS stark.


Zwei Jahre lang dauerte diese Periode des Glücks und der Seligkeit. Dann tauchten die Raumschiffe über dem Kongresszentrum auf, gerade als die führenden Regierungschefs eine ihrer Tagungen hielten, auf denen sie über Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit und Chancengleichheit redeten, aber vor allem die Wünsche realisierten, die die Lobbyisten an sie herangetragen hatten. Mit anderen Worten: Die Sorte Tagungen, die vor allem viel Kohlendioxid und heiße Luft erzeugten.

Den Raumschiffen entstiegen Roboter von etwa menschlicher Größe, sowie die Außerirdischen selbst. Sie waren feingliedrig, insektenhaft gebaut, mit zwei langen, heuschreckenartigen Beinen sowie zwei Paar Armen. Ein Paar war lang, eines kurz. Mit etwa drei bis vier Metern Länge waren sie größer als ein Mensch, aber da sie ihre Körper wie Gottesanbeterinnen schräg hielten, überragten sie die Menschen nicht allzusehr. Waffen trugen sie keine, das überließen sie den begleitenden Robotern. Diese sahen aus wie kleinere Ausgaben der Wächter.

Das Wachpersonal feuerte, aber die ganze Gruppe war von einem Energieschild umgeben und ging einfach seelenruhig weiter. Es schien sie nicht einmal aufzuregen, dass sie beschossen wurden, sie wendeten keinerlei Gegengewalt an. Nach einigen Minuten sahen die Sicherheitskräfte ein, dass der Beschuß sinnlos war und ließen es sein.

Sie betraten den Raum mit den führenden Politikern der Welt. Sie sprachen nicht auf herkömmliche Weise. Ihre Gedanken materialisierten sich in den Köpfen der Angesprochenen, jeweils in der passenden Sprache. Ihr Angebot war klar und unmissverständlich. Als Bezahlung für den Treibstoff, den man der Menschheit überlassen hatte, würde die Menschheit sich ihnen unterwerfen. Die Menschen würden für die Fremden arbeiten und ihnen Resourcen ihrer Wahl (besonders interessiert waren sie an Meerwasser, Garnelen, Mangos und Grapefruit) überlassen.

Der amerikanische Präsident lehnte das Angebot, die Erde an die Fremdlinge zu übergeben, entrüstet ab. Andere Regierungschefs zeigten sich konzilianter, aber die Vertreter von China, England und Frankreich gaben sich ebenfalls entrüstet. Der russische Regierungschef bot Verhandlungen über eine Allianz mit den Fremden gegen die Amerikaner und Europa an. Die deutsche Regierungschefin wollte zu einer langwierigen Rede ausholen, die mit den Worten "In diesen schwierigen Zeiten …​" beginnen sollte, wurde aber mit einer ebenso klaren wie unmissverständlichen Geste der Fremden darauf hingewiesen, dass man nicht an ihren Ausführungen interessiert sei.

Die Fremden forderten eine eindeutige Antwort. Sie wiesen noch einmal darauf hin, dass man die auf der ganzen Erde verteilten Geschenke angenommen habe, was rein rechtlich einen korrekt zu Stande gekommenen Handel bedeute. Falls die Menschen Zweifel hätten, sollten sie sich an ihre eigene Geschichte erinnern, in der mehrmals ganze Landstriche für Glasperlen und ähnlich minderwertige Waren eingetauscht worden wären. Trotzdem lehnte die Mehrheit ab und beharrte auch auf die höfliche, aber bestimmte Nachfrage der Fremden auf ihrem Standpunkt.

Darauf gingen die Roboter auf drei der Regierungschefs zu. (Die Bedeutung der Zahl Drei für die Menschen war den Außerirdischen wohl gut bekannt.) Sie separierten sie vom Rest der Gruppe. Einer der Roboter trat vor, hob seine Waffe und feuerte. Der armenische Botschafter wurde von der fremdartigen Waffe, die weder er noch seine Militärberater jemals gesehen hatten, in einem feinen Blutregen verwandelt, der sich langsam auf dem Boden und der Kleidung der Anwesenden verteilte.

Am zweiten Regierungschef demonstrierten sie eine Waffe, die in einer kleinen Zone die Schwerkraft erhöhte. Unter dem Knacken brechender Knochen wurde das Opfer in einen flachen Sack verwandelt. Die Außerirdischen wiesen darauf hin, dass man diesmal die Waffe habe schnell arbeiten lassen. Es sei aber durchaus möglich, die Schwerkraft beliebig langsam zu erhöhen, die Qualen für das Opfer auszumalen, überließen sie der Vorstellungskraft der Erdlinge.

Der dritte Politiker wurde von einem Schwarm von Dingern zerlegt, die wie fliegende Kreissägen von etwa fünf Zentimeter Durchmesser aussahen. Auch hier wieder der Hinweis, dass man in diesem Fall gnädigerweise die Stufe "schnell" gewählt habe, aber auch anders könne.

Das brachte das Denken der restlichen Regierungschefs in die richtige Richtung. Sie sahen ein, dass Widerstand zwecklos war (irgendwie kam manchen die Redewendung bekannt vor, aber in der momentanen Anspannung kam niemand darauf, woher). Lange, violette Tentakel schoben allen anwesenden Staatslenkern eine Art Tafel zu. Auf dieser Tafel war die Animation einer menschlichen Hand zu sehen, die auf die Tafel gelegt wurde. Sie näherte sich, wurde größer und größer und lag dann auf der Tafel. Alle Politiker machten die Geste nach. Ein zufriedenes Pfeifen der außerirdischen Gesandten zeigte an, dass man mit den Unterschriften zufrieden war.


Ajum-Iiik—​ZZZ-Ktar schlug die Bledd-Zeitung auf. Natürlich nicht auf Papier, sondern auf einem semi-organischen E-Paper. So hieß das in der Werbung. Er verstand nichts davon und hatte auch keine Ambitionen, das zu ändern. Erstmal das Gurl des Tages angucken. Wow, das war wirklich ein Prachtexemplar. Neun Tentakeln. Und was für welche. Er schenkte sich eine Tasse Kaffii ein. Bi-Ar war ja auf der Arbeit verboten. Der Job war langweilig, aber sehr gut bezahlt. Eigentlich bestand er bloß aus Aufpassen. Sollte sich jemand dem Planeten nähern, sollte er Alarm schlagen. Natürlich hatten die Meister auch automatische Anlagen dafür, aber sicher war sicher. Nahm er zumindest an. War ihm aber auch egal, die Bezahlung stimmte.

Er ging zum Fenster. Streng genommen ging er nicht, sein massiger grauer Körper glitt auf einer Art Schneckenfuß. Für alle praktischen Zwecke war diese Art der Fortbewegung aber dasselbe wie "Gehen" auf der Erde. Er sah hinunter. Viele Kilometer weiter unten lag die Planetenoberfläche. Silbergrau, ein bisschen schillernd. Völlig glatt, wie ein Spiegel. Erhebungen gab es nicht. Hier nicht und nirgendwo anders auf dem Planeten. Das wußte er aus der Schulung, die sie ihm gegeben hatten.

Angeblich gab es Tausende solcher Planeten im Einflussbereich der Meister. Sehr wertvoll, weil viele Völker im Universum das was sich auf dem Planeten befand, liebten und dringend brauchten. Die Meister selber (und alle Völker, die von ihnen abhingen) brauchten diese Resourcen nicht. Sie hatten längst neue Energieformen erschlossen, weit jenseits des primitiven Verbrennens von Kohlenwasserstoffen. Also verkauften sie diese Kohlenwasserstoffe an andere Völker im Universum oder schenkten sie ihnen. Oder so ähnlich. Hatte man ihm in der kurzen Einführung erzählt, die jeder bekam, bevor er diesen Job antrat. War ihm aber auch egal. Für ihn fiel dabei dieser Job ab. Mehr musste er nicht wissen. Der Raum war geschlossen, kein Balkon oder ähnliches. Aus Sicherheitsgründen, sagten die Meister. Wegen Selbstmord konnte es nicht sein. Wer trotz geringer Qualifikationen so einen Job ergatterte hatte Glück. 60 Tage im Jahr arbeiten, 412 Tage frei.

Es gab eine Einschränkung, die manche abschreckte. Ihm war sie egal, weil er damit nie angefangen hatte. Ein ordentliches Bi-Ar (natürlich nicht auf der Arbeit, sondern als wohlverdiente Belohnung nach einem langen 139-Stunden-Tag) war ihm lieber als die sogenannten Sigahreten. Eigentlich die einzige Einschränkung: Rauchen war strengstens verboten. Wer beim Rauchen erwischt wurde, wurde sofort pulverisiert. Konnte angeblich den ganzen Planeten in Gefahr bringen. Zwar war der ganze Planet mit einer mehrere Kilometer dicken Schicht aus Schutzgas überzogen, die jeden Brand verhindern würde. Trotzdem gab es diese Vorschrift. Vielleicht wollten die Meister einfach nur zeigen, wer hier das Sagen hatte.

Ihm egal. Noch einen Kaffii und dann würde er sich in Ruhe das Gurl angucken. Zeit hatte er.

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